Gaming und Gewalt: Welchen Einfluss haben gewalthaltige Videospiele auf Kinder?
Der Zusammenhang zwischen dem Konsum von Videospielen und aggressivem Verhalten bei Kindern ist seit Jahrzehnten Gegenstand intensiver Forschung und gesellschaftlicher Diskussionen. Dabei steht insbesondere der Konsum gewalthaltiger Videospiele im Verdacht, aggressives Verhalten, eine Abstumpfung gegenüber Gewalt oder andere negative psychologische Effekte bei jungen Spieler*innen zu fördern. Mit diesem Beitrag wollen wir die wissenschaftliche Debatte über dieses kontroverse Thema umfassend beleuchten und versuchen, die Frage zu beantworten, welchen Einfluss gewalthaltige Videospiele auf die emotionale und soziale Entwicklung von Kindern tatsächlich haben können.
Wie entsteht Aggression?
Aggression ist laut Baron und Richardson „jede Form von Verhalten, das darauf abzielt, ein anderes Lebewesen zu schädigen oder zu verletzen, das motiviert ist, eine solche Behandlung zu vermeiden“ (Krahé, 2021, S. 25). Aggressives Verhalten kann verschiedene Formen annehmen, unter anderem verbal (z. B. Anschreien oder Beleidigen), physisch (etwa Schlagen) oder postural (wie eine bedrohliche Körperhaltung) (Krahé, 2021, S. 27). Theorien zur Entstehung von Aggression lassen sich im Allgemeinen in zwei Hauptgruppen unterteilen. Erstens die biologischen Theorien, die biologische Prozesse und Mechanismen als Ursprünge aggressiven Verhaltens betrachten, und zweitens die psychologischen Theorien, welche mentale und kognitive Prozesse als wesentliche Faktoren für aggressives Verhalten heranziehen (Krahé, 2021, S. 72). Laut Krahé schließen sich diese beiden Theoriestränge nicht gegenseitig aus, sondern ergänzen sich und bieten eine umfassendere Erklärung.
Aggression kann sich schon im frühen Kindesalter zeigen. Bereits in der zweiten Hälfte des ersten Lebensjahres eines Kindes kann man eine Reaktion auf Frustration in Form von Wut beobachten. Da Kleinkinder jedoch noch nicht in der Lage sind, die Konsequenzen ihres Handelns abzuschätzen und anderen somit nicht mit Absicht Schaden zuzufügen, entspricht dieses Verhalten nicht der Definition von Aggression nach Baron und Richardson (Krahé, 2021). Im Alter von elf bis 15 Monaten lässt sich bei Kindern der Gebrauch von physischer Gewalt gegenüber Gleichaltrigen beobachten. Im Alter zwischen zwei und drei Jahren kommt es vermehrt zu Konflikten mit Altersgenossinnen und Altersgenossen. Die physische Aggression nimmt jedoch in der Regel nach etwa 30 Monaten ab (Alink et al., 2006). Laut Krahé beruhen individuelle Unterschiede hinsichtlich des Auftretens von aggressivem Verhalten bei Kindern auf Unterschieden in der Entwicklung emotionaler und kognitiver Prozesse. „Kinder, die Defizite in der Emotionsregulierung und Impulskontrolle aufweisen, neigen eher dazu, aggressive Verhaltensmuster zu entwickeln und aufrechtzuerhalten. Diese Kinder werden oft als temperamentvoll wahrgenommen und zeigen Schwierigkeiten, ihre aggressiven Impulse in einer altersgemäßen Weise zu zügeln “ (Pepler, 2018; Van Goozen, 2015) so Krahé.
Die Entwicklung von Aggression wird von verschiedenen Faktoren beeinflusst. So können zwischenmenschliche Faktoren, wie familiäre Beziehungen, oder Umweltfaktoren, beispielsweise Nachbarschaftsgewalt, aggressives Verhalten begünstigen. Des Weiteren kann der Kontakt mit gewalthaltigen Medien sowohl kurzfristig als auch langfristig zu einer Steigerung von Aggression führen (Krahé, 2021, S. 133).
Dass Kinder durch soziale Beobachtung aggressives Verhalten erlernen können, bestätigten Bandura, Ross und Ross in ihrer bekannten „Bobo doll“-Studie, bei der Kinder, die aggressives Verhalten eines Erwachsenen gegenüber einer Plastikpuppe beobachteten, das Verhalten selbst ebenfalls zeigten (Bandura et al., 1961). Beobachtendes Lernen ist laut Krahé nicht nur auf die Nachahmung bestimmter aggressiver Handlungen beschränkt, sondern beeinflusst auch die Aneignung von Aggression-Wissensstrukturen. So kann wiederholter Konsum gewalthaltiger Medien langfristig zu aggressionsfördernden Überzeugungen und Einstellungen führen, feindselige Wahrnehmungen und Erwartungen verstärken sowie das Erlernen aggressiver Verhaltensskripte fördern (Krahé, 2021, S. 248). Anderson und Bushman erwähnen zudem Desensibilisierung und eine Enthemmung gegenüber Aggression als mögliche Folgen (Bushman/Anderson, 2002).
Konsum von Videospielen bei Kindern
Für viele Kinder gehört Gaming zum Alltag. In Deutschland spielen 60 Prozent regelmäßig, davon 23 Prozent jeden Tag (KIM, 2022). Mit zunehmendem Alter steigt der Konsum digitaler Spiele; in der Gruppe der Zwölf- bis 13-Jährigen spielen bereits 76 Prozent mindestens einmal pro Woche (KIM, 2022). Zu den beliebtesten Videospielen zählen bei Mädchen „Die Sims“, „Candy Crush“ und „Minecraft“, während Jungen besonders häufig „Minecraft“, „FIFA“ und „Fortnite“ nennen (KIM, 2022). Die Unterhaltungssoftware Selbstkontrolle (USK) legt in Deutschland die Altersfreigabe von Videospielen fest. Obwohl diese Freigaben keine pädagogischen Empfehlungen darstellen, achten 43 Prozent der befragten Eltern beim Kauf auf die Altersbeschränkung. Dennoch spielen 45 Prozent der teilnehmenden Kinder Videospiele, für die sie eigentlich noch zu jung sind; bei Jungen sind es sogar 50 Prozent (KIM, 2022).
Doch auch Spiele, die laut USK-Einstufung für eine bestimmte Altersgruppe geeignet sind, können unangemessene Darstellungen von Gewalt und aggressivem Verhalten enthalten. So kamen Wissenschaftler*innen des Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen e.V. in einer Studie zum Jugendmedienschutz bei gewalthaltigen Computerspielen zu dem Schluss, dass bei 60 Prozent der untersuchten Videospiele, die ab 12 Jahren freigegeben wurden, die Einstufung mindestens eine Altersstufe höher hätte ausfallen müssen, um die Inhalte angemessen zu berücksichtigen (Höynck et al., 2007).
Führen gewalthaltige Videospiele zwangsläufig zu aggressivem Verhalten?
Einflussreiche Theorien, wie das General Aggression Model, legen die Vermutung nahe, dass das Spielen von gewalthaltigen Videospielen zu einer Steigerung der Aggression führt. Diese Annahme wird jedoch von einzelnen Studien infrage gestellt, die keine Belege für diese Korrelation finden und dieser Hypothese widersprechen.
Im Rahmen einer Langzeitstudie analysierten Coyne und Stockdale unter anderem den Konsum von gewalthaltigen Videospielen sowie die Aggression von 500 Kindern, die zu Beginn der Studie zwischen zehn und 13 Jahren alt waren. Die Studie erstreckte sich über einen Zeitraum von zehn Jahren. Die Forschungsgruppe konnte nachweisen, dass ein mäßiges und relativ beständiges Spielen von gewalthaltigen Videospielen am ehesten mit einer Zunahme des aggressiven Verhaltens im Laufe der Zeit einhergeht (Coyne/Stockdale, 2020). In Übereinstimmung mit dem General Aggression Model von Anderson und Bushman lässt sich vermuten, dass die Gruppe von Teilnehmenden, welche bereits zu Beginn der Untersuchung einen hohen Konsum von gewalthaltigen Videospielen aufwies, auch am Ende ein höheres Niveau an Aggression aufweist. Es war am Ende jedoch die Gruppe mit dem moderaten, aber regelmäßigen Konsum, welche ein signifikant höheres Niveau an Aggression als die anderen Gruppen aufwies (Coyne/Stockdale, 2020, S. 5).
Lengersdorff et al. konnten in ihrer Studie, an der Teilnehmerinnen zwischen 18 und 35 Jahren teilnahmen, keinen Zusammenhang zwischen dem regelmäßigen Konsum gewalthaltiger Videospiele und einer Desensibilisierung gegenüber Gewalt feststellen. Es ist jedoch bislang unklar, inwiefern diese Erkenntnis auf die Entwicklung von Aggression bei Kindern übertragen werden kann. (Lengersdorff et al., 2023)
Fazit
Die Frage, inwiefern gewalthaltige Videospiele auf Kinder einwirken, ist wissenschaftlich noch nicht hinreichend geklärt. Die Entwicklung von aggressivem Verhalten ist von einer Vielzahl von Faktoren abhängig und zeigt sich in unterschiedlichen Ausprägungen bei jedem Kind. Eine Pauschalisierung wäre demnach inadäquat. Neuere Studien, wie beispielsweise von Coyne und Stockdale aus dem Jahr 2020 sowie Lengersdorff et al. 2023, werfen die in der Vergangenheit weitgehend akzeptierte Vorstellung, dass der Konsum von gewalthaltigen Videospielen vermehrt zu aggressivem Verhalten führt, in Frage.
Dennoch wird Eltern empfohlen, den Videospielkonsum ihrer Kinder aktiv zu begleiten und beim Kauf von Spielen nicht allein auf die Altersbeschränkungen der USK zu vertrauen, sondern auch Angebote wie spielbar.de (veröffentlicht von der Bundeszentrale für politische Bildung) oder spieleratgeber-nrw.de (veröffentlicht von der Fachstelle für Jugendmedienkultur NRW) zu nutzen, die eigene Altersempfehlungen für Videospiele herausgeben.
Quellen und weiterführende Informationen
Bandura, A., Ross, D., & Ross, S. A. (1961). Transmission of aggression through imitation of aggressive models. The Journal of Abnormal and Social Psychology, 63, 575–582. doi: 10.1037/h0045925
Bushman, B. J. & Anderson, C. A. (2002). Violent Video Games and Hostile Expectations: A Test of the General Aggression Model. Personality And Social Psychology Bulletin, 28(12), 1679–1686. https://doi.org/10.1177/014616702237649
Coyne, S. M. & Stockdale, L. (2020). Growing Up with Grand Theft Auto: A 10-Year Study of Longitudinal Growth of Violent Video Game Play in Adolescents. Cyberpsychology Behavior And Social Networking, 24(1), 11–16. https://doi.org/10.1089/cyber.2020.0049
Höynck, T., Mößle, T., Kleimann, M., Pfeiffer, C., & Rehbein, F. (2007). Jugendmedienschutz bei gewalthaltigen Computerspielen: Eine Analyse der USK-Alterseinstufungen. Forschungsbericht Nr. 101. Hannover: Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachsen.
Krahé, B. (2021). The social psychology of aggression. (3rd edition). Abingdon, Oxon ; New York, NY: Routledge.
Lengersdorff, L. L., Wagner, I. C., Mittmann, G., Sastre-Yagüe, D., Lüttig, A., Olsson, A., Petrovic, P. & Lamm, C. (2023). Neuroimaging and behavioral evidence that violent video games exert no negative effect on human empathy for pain and emotional reactivity to violence. eLife, 12. https://doi.org/10.7554/elife.84951
Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (2022). KIM-Studie 2022 – Kinder + Medien, Computer + Internet. https://www.mpfs.de/studien/kim-studie/2022/. (08.11.2024).