Open Educational Resources – Offene Bildungsmaterialien für die Schule von morgen
Ob Arbeitsblätter, Videos oder Grafiken – das Internet bietet eine nahezu unerschöpfliche Fülle an Bildungsmaterialien, die Lehrer*innen für ihre Unterrichtsplanung und -gestaltung verwenden können. Aber dürfen diese Materialien auch bedenkenlos im Unterricht genutzt werden? Ist es überhaupt erlaubt, sie auf die eigenen Bedürfnisse anzupassen? Das Urheberrecht setzt hier in vielen Fällen enge Grenzen. Open Educational Resources (OER), im Deutschen auch als „offene Bildungsmaterialien“ bezeichnet, gewinnen daher immer stärker an Bedeutung.
Was sind OER?
Unter OER versteht man jegliche Form von Bildungsmaterialien, welche unter einer offenen Lizenz veröffentlicht werden. OER können dabei sowohl einzelne Materialien wie zum Beispiel Arbeitsblätter, Videos, Podcasts oder Spiele sein, aber auch ganze Kurse oder Bücher umfassen. Eine offene Lizenz ermöglicht neben einem kostenfreien Zugang auch eine Bearbeitung und Weiterverbreitung der Materialien unter Wahrung der geistigen Eigentumsrechte des Urhebers. Zur Lizenzierung von OER haben sich die Creative Commons-Lizenzen CC0, CC-BY und CC-BY-SA etabliert, da nur sie die Anforderungen an eine offene Lizenz erfüllen.
Potenziale
Nach Einschätzung der UNESCO bieten OER ein großes Potenzial, das in der Agenda 2030 formulierte Ziel „inklusive, chancengerechte und hochwertige Bildung für alle Menschen sicherzustellen, sowie Möglichkeiten zum lebenslangen Lernen zu fördern“ (UNESCO, o. D.), umzusetzen. Anders als konventionell hergestellte Bildungsmaterialien, zum Beispiel von Verlagen, sind OER für alle Interessent*innen kostenlos und niedrigschwellig über das Internet abrufbar. Sie können somit dazu beitragen, weltweit den Zugang zu Bildungsmaterialien zu erhöhen. Durch ihre offene Zugänglichkeit stehen OER Lernenden darüber hinaus lebenslang, also nicht nur in formellen Bildungskontexten, zur Verfügung. Durch OER können weiterhin nicht nur beim Zugang zu Bildungsmaterialien, sondern auch bei deren Erstellung Kosten gespart werden. So kann bei der Erarbeitung neuer Lernmaterialien leicht auf bereits vorhandene OER zurückgegriffen werden, wodurch doppelte Arbeiten vermieden werden.
Ein weiterer wichtiger Aspekt ist, dass OER inklusive Bildungsarbeit erleichtern, indem sie beliebig verändert und so individuell an die Bedürfnisse der Lernenden angepasst werden können. Nicht zuletzt wird OER auch das Potenzial zugeschrieben, den Kulturwandel hin zu einem partizipativeren Bildungssystem zu befördern, indem Lernende von reinen Wissenskonsumenten selbst zum Produzenten von Lernmaterialien werden können. „Damit begünstigt OER nicht nur die Demokratisierung des Zugangs zum Wissen, sondern auch der Herstellung des Wissens“, wie Jan Neumann, Leiter von Recht und Organisation des Hochschulbibliothekszentrums Nordrhein-Westfahlen (Neumann, 2014, S. 29), darlegt.
Aber können OER bei all ihren Potenzialen überhaupt an die Qualität konventionell erstellter Bildungsmaterialien heranreichen? Richtig ist, dass bei OER institutionelle Qualitätssicherungsmechanismen in der Regel wegfallen. Befürworter halten dem jedoch entgegen, dass durch kollaborative Lernprozesse und Peer-Review-Verfahren die Qualität von OER sichergestellt werden können. So können OER konventionellen Lern- und Lehrmaterialien qualitativ sogar überlegen sein.
Internationale Entwicklungen
Die Potenziale von OER wurden international schon früh erkannt. Die OER-Bewegung blickt mittlerweile auf eine über 20-jährige Geschichte zurück. Öffentlich trat das Konzept erstmals 2001 in Erscheinung, im Rahmen des Projekts Open Courseware (OCW) des Massachusetts Institute of Technology. Dabei wurden erstmals universitäre Lehr- und Lernmaterialien in Form von Online-Kursen öffentlich zur Verfügung gestellt. Das Konzept wurde im darauffolgenden Jahr von der UNESCO bei ihrem Forum on the Impact of Open Courseware for Higher Education in Developing Countries aufgegriffen. Hier wurde auch der Begriff der „Open Educational Resources“ zum ersten Mal erwähnt.
Einen enormen Schub erhielt die Bewegung 2007 bei einem Treffen der OER-Community in Kapstadt, an dessen Ende die sogenannte Kapstadt-Deklaration verabschiedet wurde. Darin wurden Maßnahmen aufgezeigt, mit denen die Verbreitung von OER gefördert werden sollte. Weltweite Aufmerksamkeit erhielt das Thema anschließend im Rahmen zweier UNESCO-Weltkongresse 2012 in Paris und 2017 in Ljubljana. Deren Ergebnisse mündeten schließlich in einer Empfehlung, welche 2019 von der UNESCO-Generalkonferenz verabschiedet wurde. Darin appelliert die UNESCO an ihre Mitgliedsstaaten, in die OER-Förderung zu investieren und zeigt notwendige Handlungsfelder zur Erreichung dieses Ziels auf.
OER in Deutschland
Verglichen mit anderen Nationen wie den USA, Großbritannien und den Niederlanden ist Deutschland erst spät in die Diskussion um OER eingestiegen. Größere Aufmerksamkeit erlangte das Thema erstmals 2011 mit der Diskussion um eine als „Schultrojaner“ bekannt gewordene Software. Mit ihrer Hilfe sollten Schulrechner auf urheberrechtlich geschützte Werke untersucht werden. Aufgrund massiver öffentlicher Kritik kam der „Schultrojaner“ zwar schlussendlich nie zum Einsatz – die dadurch ausgelöste Diskussion um OER ist aber bis heute geblieben. So haben sich zahlreiche gesellschaftliche Initiativen entwickelt, die die Bekanntheit von offenen Bildungsmaterialien steigern wollen und Internetplattformen zum Austausch von OER zur Verfügung stellen. Ein Beispiel hierfür ist die Informationsstelle OER mit ihrem Webauftritt OERinfo. Eine Möglichkeit zum Erfahrungsaustausch und kollaborativen Lernen bieten auch die regelmäßig unter der Schirmherrschaft der deutschen UNESCO-Kommission stattfindenden OERcamps, welche allen Interessierten offenstehen.
Auch die deutsche Politik hat die Potenziale von offenen Lehr- und Lernmaterialien mittlerweile erkannt und das Thema auf die Agenda gesetzt. So stellte das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) im Juni 2022 als Reaktion auf die UNESCO-Empfehlung von 2019 seine OER-Strategie vor. Ziel der Strategie ist es, die Rahmenbedingungen zur Erstellung und Nutzung von OER auf technischer, pädagogischer und organisatorischer Ebene zu verbessern. So soll der Kulturwandel hin zu einem offenen Bildungssystem durch die Förderung entsprechender innovativer Projekte und Kooperationen vorangetrieben werden. Daneben soll das OER-Konzept in Zukunft stärker in der pädagogischen Aus- und Weiterbildung verankert werden, um Lehrende mit dem Thema vertraut zu machen. Nach dem Leitbild „öffentliches Geld – öffentliches Gut“ (BMBF, 2022, S. 9) sollen außerdem mit öffentlichen Mitteln finanzierte Bildungsmaterialien zukünftig auch öffentlich nutzbar als OER zur Verfügung gestellt werden. Darüber hinaus soll der Zugang zu OER vereinfacht werden, indem einheitliche Metadatenstandards entwickelt und bestehende OER-Angebote zusammengeführt werden. Das Thema soll aber auch aus wissenschaftlicher Perspektive stärker in den Fokus gerückt werden, indem die Forschung zum Thema OER vorangetrieben und so die Akzeptanz offener Bildungsmaterialien insgesamt gesteigert werden soll.
Nutzung und Erstellung von OER für die Schule
Trotz aller politischer Bemühungen lebt die OER-Community vor allem von der Partizipation ihrer Mitglieder und der Weiternutzung ihrer Inhalte. Das Internet bietet eine Vielzahl von OER-Angeboten für den Schulunterricht. Eine Plattform, auf der alle OER-Angebote in Deutschland zusammengeführt sind, gibt es jedoch nicht. Die Informationsstelle OER bietet auf ihrer Webseite aber eine gute Übersicht über die wichtigsten Plattformen und Datenbanken für schulische Kontexte. Dort finden sich sowohl Links zu Datenbanken und Portalen für frei lizenzierte Fotos als auch zu fachübergreifenden und fachspezifischen Materialsammlungen.
Sind die Materialien erst einmal gefunden, können sie nachgenutzt werden. Dabei gibt es jedoch einige Regeln zu beachten. So ist eine kritische Prüfung des Inhalts und der Quelle – wie auch bei konventionellen Bildungsmaterialien – unabdingbar. Darüber hinaus sollte untersucht werden, ob das gefundene Material überhaupt als OER veröffentlicht werden durfte oder ob es urheberrechtlich geschützte Teile enthält. Wichtig ist zudem, dass bei einer Nachnutzung die Quelle und die Lizenz des Materials angegeben werden. Eine hilfreiche Gedächtnisstütze bietet hierbei beispielsweise die TULLU-Regel. Das Akronym steht für Titel, Urheber, Lizenz, Link und Ursprungsort und fasst so alle wichtigen Informationen für eine korrekte Lizenzangabe zusammen. Wurden etwaige Veränderungen an dem nachgenutzten Material vorgenommen, müssen diese ebenfalls kenntlich gemacht werden.
Auch bei der Erstellung und Weiterverbreitung von OER müssen einige Besonderheiten beachtet werden. So dürfen nur Materialien, die komplett selbst erstellt wurden, unter einer freien Lizenz veröffentlicht werden. Das bedeutet, es dürfen keine Teile darin enthalten sein, an denen von Seiten Dritter Urheber- oder Persönlichkeitsrechtsansprüche bestehen. Ist dies geklärt, so kann eine geeignete freie Lizenz gewählt und auf dem Material angegeben werden. Hilfe bietet hier beispielsweise der Lizenzgenerator von Creative Commons. Für die korrekte Lizenzangabe auf dem Material kann die TULLU-Regel verwendet werden. Im Anschluss kann das Material veröffentlicht und so für die Weiternutzung durch Dritte auf der ganzen Welt zugänglich gemacht werden.
Fazit
Die nationalen und internationalen Entwicklungen zeigen, dass OER weltweit auf dem Vormarsch sind – und das zu Recht. So sind OER nicht nur rechtlich einfacher zu handhaben als konventionelle Bildungsmaterialien, sie bieten auch das Potenzial, Bildung inklusiver zu gestalten und den Kulturwandel hin zu einem offeneren Bildungssystem voranzutreiben. Doch trotz aller Bemühungen, von politischer wie von gesellschaftlicher Seite, bleibt noch viel zu tun. Experte Jan Neumann bilanziert:
„Offenheit, Transparenz, Kooperation und Partizipation, all dies erfordert einen kulturellen Wandlungsprozess, der Jahre, vermutlich sogar Jahrzehnte dauern wird. Wir müssen also weiter entschlossen voranschreiten.“ (UNESCO, 2019a)
Quellen und weiterführende Informationen
Bundesministerium für Bildung und Forschung (2022): OER-Strategie: Freie Bildungsmaterialien für die Entwicklung digitaler Bildung. https://www.bmbf.de/SharedDocs/Publikationen/de/bmbf/3/691288_OER-Strategie.pdf?__blob=publicationFile&v=6 (30.10.2022)
Cape Town Open Education Declaration (o. D.): Cape Town Open Education Declaration. Unlocking the promise of open educational resources. https://www.capetowndeclaration.org/read/ (06.11.2022)
Creative Commons (o. D.a): Mehr über die Lizenzen. https://creativecommons.org/licenses/?lang=de (12.11.2022)
Creative Commons (o. D.b): Choose a license. https://creativecommons.org/choose/ (12.11.2022)
Muuß-Merholz, J. & Schaumburg, F. (2014): Open Educational Resources (OER) für Schulen in Deutschland 2014 – Whitepaper zu Grundlagen, Akteuren und Entwicklungen, 2014er Edition. Berlin: Internet & Gesellschaft Collaboratory e.V. https://www.joeran.de/dox/2.-OER-Whitepaper_OER-f%c3%bcr-Schulen-in-Deutschland-2014.pdf (31.10.2022)
Muuß-Merholz, J. (2018): Freie Unterrichtsmaterialien finden, rechtssicher einsetzen, selbst machen und teilen. Weinheim: Beltz. https://www.was-ist-oer.de/wp-content/uploads/sites/17/2018/01/Joeran-Muuss-Merholz-Freie-Unterrichtsmaterialien-Beltz-2018.pdf (12.11.2022)
Neumann, J. (2014): Open Educational Resources — Grundlagen und Herausforderungen. In: Ute Erdsiek-Rave; Marei John-Ohnesorg (Hrsg.): Schöne neue Welt? Open Educational Resources an Schulen. Berlin: Friedrich-Ebert-Stiftung, 21-34. http://library.fes.de/pdf-files/studienfoerderung/11147.pdf (31.10.2022)
Team OERinfo (o. D.a): Was ist OER? https://open-educational-resources.de/was-ist-oer-3-2/ (30.10.2022)
Team OERinfo (o. D.b): Wie und wo finde ich OER für den Unterricht in der Schule? https://open-educational-resources.de/oer-finden-in-der-schule/ (30.10.2022)
Team OERinfo (o. D.c): Wie und wo finde ich OER für den Unterricht in der Schule? https://open-educational-resources.de/oer-finden-in-der-schule/ (09.11.2022)
UNESCO (2019): UNESCO-Empfehlung zu Open Educational Resources (OER). https://www.unesco.de/sites/default/files/2020-05/2019_Empfehlung%20Open%20Educational%20Resources.pdf (30.10.2022)
UNESCO (2019a): „Auch in Europa ist Bildungsgerechtigkeit keine Selbstverständlichkeit“. https://www.unesco.de/bildung/open-educational-resources/auch-europa-ist-bildungsgerechtigkeit-keine (30.10.2022)
UNESCO (o. D.): Open Educational Resources. https://www.unesco.de/bildung/open-educational-resources (27.10.2022)