Entwicklung der Lesekompetenz von Kindern im Grundschulalter – Eine Ausarbeitung der diesjährigen IGLU-Studie

Eine gute Lesekompetenz legt eine Grundlage für eine erfolgreiche Bildung von Kindern. Doch wie hat sich die Lesekompetenz bei Grundschulkindern im Laufe der letzten 20 Jahre entwickelt? Wie steht Deutschland im internationalen Vergleich? Und wo gibt es Bedarf an Verbesserung? Antworten auf diese Fragen bietet die IGLU-Studie 2021, welche seit 2001 in einem fünfjährigen Zyklus durchgeführt wird. In diesem Beitrag wird die diesjährige Studie ausgewertet.
Methodik
An der IGLU 2021 beteiligten sich weltweit 57 Staaten und Regionen sowie acht Bildungssysteme als sogenannte Benchmark-Teilnehmer. Der Erhebungszyklus 2021 wurde durch die Corona-Pandemie beeinträchtigt, da es bei einigen Beteiligten aufgrund von abweichenden Regelunterricht und Schutzmaßnahmen zu zeitlichen Abweichungen der Erhebungen kam (IGLU, 2023, S. 12).
Für die IGLU-Studie wurden bundesweit 4611 Viertklässler*innen aus 252 Grundschulen herangezogen. Weitere 1343 Schüler*innen aus 74 Klassen haben aufgrund eines Moduswechsels von Papier zu Laptop an einer papierbasierten Brückenstudie teilgenommen. Zudem wurden Hintergrundinformationen zu den Kindern, deren Eltern bzw. Erziehungsberechtigte sowie Lehrkräfte und Schulleitungen anhand von Fragebögen erhoben (IGLU, 2023, S. 14).
Die Lesekompetenz wurde mithilfe eines standardisierten Tests gemessen, welcher 2021 das erste Mal am Laptop bearbeitet wurde. Bei der Erhebung werden die Textsorten in zwei Leseintentionen, die erzählenden und die Texte unterteilt, die als typische Leseerfahrungen bei Kindern angesehen werden. Es wurden insgesamt neun erzählende und neun informierende Texte sowie fünf Texte zum Lesen in Online-Umgebungen verwendet. Jedes Kind hat von den Texten zwei Stück mit den dazugehörigen Aufgaben bearbeitet (IGLU, 2023, S. 41).
Lesekompetenz im internationalen Vergleich
Deutschland liegt mit einer durchschnittlichen Lesekompetenz von 524 Punkten im Mittelfeld der Teilnehmerstaaten und weicht nicht besonders viel vom Durchschnitt der anderen europäischen Länder ab. Allerdings ist die Lesekompetenz im Vergleich zur vorangegangenen Studie von 2016 (537 Punkte) bedeutend geringer ausgefallen. Des Weiteren geht hervor, dass ein Viertel der deutschen Grundschulkinder die Kompetenzstufe III nicht erreicht, welche eine maßgebliche Voraussetzung ist, um die Anforderungen im weiteren Verlauf der Schulzeit erfüllen zu können. Der Anteil mit unzureichender Lesekompetenz ist im Vergleich zur letzten Studie angestiegen, zudem ist der Anteil an Schüler*innen mit einer Kompetenzstufe von mindestens IV im Laufe der 20 Jahre von 47% auf 31% gesunken (IGLU, 2023, S. 10).
Abbildung 1
Bei den Textsorten sind keine gravierenden Unterschiede zu verzeichnen, wobei bei erzählenden Texten im Schnitt acht Punkte mehr als bei den informierenden Texten erzielt wurden. Zudem ist auf internationaler Ebene eine bessere Lesekompetenz bei Mädchen zu verzeichnen (IGLU, 2023, S. 10).
Entwicklung der Lesekompetenz in den letzten 20 Jahren
Im direkten Vergleich zwischen den Ergebnissen von IGLU 2001 und IGLU 2021 stellt sich heraus, dass ein deutlicher Rückgang der Lesekompetenz zu verzeichnen ist. Dabei kann kein Zusammenhang mit der Zusammensetzung der Schüler*innen bzw. dem Moduswechsel auf den Laptop nachgewiesen werden (IGLU, 2023, S. 129).
Die von der IGLU-Studie definierte „wünschenswerte Entwicklung“ sieht einen deutlichen Anstieg der Lesekompetenz von 2001 zu 2021 vor. Während dies bei Hongkong, Russland und Slowenien eingetreten ist, ist in Deutschland, aber auch den Niederlanden und Schweden eher eine problematische Entwicklung zu beobachten (Abb. 2).
Abbildung 2
Des Weiteren zeigt der 20-Jahre-Trend, dass in den teilnehmenden Ländern Mädchen seit 2001 besser lesen als die Jungen, wobei sich in einigen Ländern die Geschlechterdifferenz verringert hat (IGLU, 2023, S. 129).
Leseverhalten und -motivation
Die Viertklässler*innen weisen im internationalen Verhältnis ein positives Leseselbstkonzept vor und haben eine überwiegend hohe Lesemotivation, welche sich jedoch im 20-Jahre-Trend verringert hat. Hinzu kommt, dass sie viel außerhalb der Schule in der Freizeit lesen. Allerdings lesen über ein Fünftel der Schüler*innen gar nicht oder selten in ihrer Freizeit (Abb. 3). Mädchen zeigen tendenziell mehr Interesse am Lesen, dass sie ein positiveres Bild von sich selbst als Leserinnen haben und auch häufiger lesen im Vergleich zu Jungen (IGLU, 2023, S. 146).
Abbildung 3
Soziale und migrationsbedingte Ungleichheiten in der Lesekompetenz
In der Studie wurde anhand der Fragebögen ermittelt, ob und inwiefern der soziale Hintergrund der Viertklässler*innen einen Zusammenhang mit deren Lesekompetenz hat. Die Studienergebnisse zeigen, dass Schüler*innen aus sozial starken Familien im Vergleich zu Kindern aus sozial schwachen Familien einen Kompetenzvorsprung verzeichnen. Zudem zeigt sich, dass bei Schüler*innen, welche zu Hause die Testsprache sprechen, der Kompetenzvorsprung ebenfalls höher ausfällt als bei Kindern, welche die Testsprache kaum bis gar nicht im Haushalt sprechen. Diese sozialen Unstimmigkeiten konnten in den letzten 20 Jahren nicht behoben werden, allerdings hat sie sich auch nicht verstärkt. De facto hat sich also in Deutschland hinsichtlich der Chancengleichheit nichts verändert. Die Unterschiede in der Lesekompetenz zwischen Schüler*innen mit und ohne Migrationshintergrund können durch gesprochene Sprache in der Familie und deren sozialem Status erklärt werden (IGLU, 2023, S. 173).
Fazit
Die Bilanz der IGLU-Studie 2021 stellt klar, dass die Ziele Weiterentwicklung der Bildung in Deutschland verfehlt wurden. Die durchschnittliche Lesekompetenz der Viertklässler*innen ist deutlich gesunken und es ist zu einer größeren Streuung hinsichtlich der Lesekompetenz unter den Schüler*innen gekommen. Im Umkehrschluss hat sich im Hinblick auf die Bildungsgerechtigkeit in Deutschland nichts geändert. Zudem sind die sozialen Unstimmigkeiten sowohl alleinstehend als auch im internationalen Vergleich stark ausgeprägt (IGLU, 2023, S. 23).
Daher müssen neue Maßnahmen geschaffen werden, mit denen das deutsche Bildungssystem gezielt weiterentwickelt wird. So soll die Unterrichtszeit, in der lesebezogene Aktivitäten durchgeführt werden, erhöht und vor allem priorisiert werden, um auf diesem Weg auch den Bildungserfolg der Kinder, unabhängig von der sozialen Herkunft, zu garantieren. Dies erfolgt durch einen qualitativ hochwertigen Leseunterricht, das Aufarbeiten von Kompetenzrückständen in homogenen Kleingruppen und einer individuellen Unterstützung für förderbedürftige Schüler*innen. Des Weiteren soll eine gezielte Aus- und Weiterbildung der Grundschullehrkräfte in den Bereichen der Lese- und Sprachförderung erfolgen und auch die Familien sollen ebenfalls aktiv einbezogen werden (IGLU, 2023, S. 23).
Quellen und weiterführende Informationen
McElvany, N. et al. (2023): IGLU 2021 – Lesekompetenz von Grundschulkindern im internationalen Vergleich und im Trend über 20 Jahre. https://www.waxmann.com/index.php?eID=download&buchnr=4700. (27.08.2023)