Zwischen Schutz und Teilhabe: Wie Social Media kindgerechter werden muss

Die Realität ignoriert die Altersgrenze
Die frisch veröffentlichte KIM-Studie 2024 des Medienpädagogischen Forschungsverbunds Südwest (mpfs) bietet aktuelle Einblicke in das Mediennutzungsverhalten von Kindern im Alter von sechs bis 13 Jahren in Deutschland. Dabei zeigt sich: Fast 30 % der Zehn- bis Elfjährigen nutzen regelmäßig soziale Netzwerke – obwohl diese laut AGBs der Plattformen erst ab 13 Jahren erlaubt sind.
Diese Diskrepanz zwischen Regeln und Realität wirft die Frage auf, ob freiwillige Altersgrenzen ausreichen – oder ob es gesetzlicher Nachschärfungen bedarf.
In Australien wurde dazu Ende 2024 ein Gesetz verabschiedet – in Deutschland hingegen gibt es keine gesetzlich verbindliche Altersgrenze für die Nutzung von Social Media. Plattformen wie Instagram, TikTok oder Snapchat setzen zwar ein Mindestalter von 13 Jahren voraus, verlassen sich jedoch auf die Selbstauskunft der Nutzer*innen.
Zwischen Statistik und Alltag: So früh sind Kinder online
In der KIM-Studie 2024 ist klar zu erkennen, dass die tägliche Internetnutzung von Kindern weiter zunimmt. Besonders auffällig ist auch der Anstieg bei Acht- bis Neunjährigen: Hier hat sich der Anteil der täglichen Nutzerinnen und Nutzer innerhalb von zwei Jahren fast verdoppelt – von 23 % auf 40 %.
Laut KIM-Studie 2024 verbringen Sechs- bis 13-Jährige im Schnitt 56 Minuten pro Tag online. Bei den Zwölf- bis 13-Jährigen liegt die durchschnittliche Nutzungsdauer sogar bei 83 Minuten täglich. Diese Entwicklungen zeigen einen Anstieg im Vergleich zu den Vorjahren und dass digitale Medien längst zu einem festen Bestandteil des Alltags junger Menschen geworden sind (KIM-Studie 2024 – mpfs, 2025). Somit nimmt auch der mögliche Einfluss auf Konzentration, Schlafverhalten und soziale Interaktionen zu.
Streamingplattformen wie Netflix, Disney+ oder YouTube sind bei Kindern äußerst beliebt und haben klassisches Fernsehen in vielen Altersgruppen bereits abgelöst. Der Anteil der Kinder, die mindestens mehrmals pro Woche YouTube nutzen, liegt bei 67 %. Auch Streamingdienste wie Netflix (40 %) und Disney+ (29 %) sind stark vertreten. Dieser Trend zum sogenannten On-Demand-Konsum – also zur freien Wahl von Inhalten unabhängig vom festen TV-Programm – verändert nicht nur das Medienverhalten, sondern auch die Art und Weise, wie Kinder Inhalte auswählen, konsumieren und bewerten (KIM-Studie 2024 – Mpfs, 2025).
Obwohl Plattformen wie TikTok und Instagram laut AGB erst ab 13 Jahren erlaubt sind, zeigt die KIM-Studie: Viele Kinder nutzen sie deutlich früher. Rund ein Drittel der Zehn- bis Elfjährigen gaben an, regelmäßig soziale Netzwerke zu verwenden – ein klarer Hinweis auf die verbreitete Missachtung der Altersgrenzen. Auch die DAK-Studie 2025 zeigt, dass ca. 25 % der Zehn- bis 17-Jährigen in Deutschland soziale Medien in einem riskanten Ausmaß nutzen (was etwa 1,3 Millionen Kindern und Jugendlichen entspricht). Im Vergleich zu 2019 hat sich der Anteil der problematischen Nutzung damit mehr als verdoppelt.
Angesichts dieser Zahlen stellt sich zunehmend die Frage: Genügt die bestehende Selbstregulierung der Plattformen – oder braucht es gesetzliche Eingriffe?
Risiken Sozialer Medien
Wissenschaftliche Untersuchungen warnen zunehmend vor dem Einfluss sozialer Medien auf Kinder und Jugendliche. Während viele Plattformen als harmlose Unterhaltung wahrgenommen werden, zeigen aktuelle Studien, dass die intensive Nutzung erhebliche Risiken birgt. Besonders problematisch ist der Einfluss auf die psychische Gesundheit: So besteht ein klarer Zusammenhang zwischen starker Social-Media-Nutzung und Symptomen wie Depressionen, Angststörungen oder niedrigem Selbstwertgefühl – vor allem bei Mädchen (vgl. Azem et al., 2023; Bundeszentrale für politische Bildung, 2024; Ins Netz gehen, o. D.).
Auch das Royal College of Psychiatrists warnt vor Schlafproblemen, Konzentrationsstörungen sowie negativen Effekten durch ständigen sozialen Vergleich und fordert deutlich strengere Schutzmaßnahmen (Kerr et al., 2024). Die Risiken betreffen nicht nur einzelne Extremfälle, sondern eine breite Masse – besonders in der sensiblen Entwicklungsphase der frühen Teenagerjahre.
Chancen Sozialer Medien
Trotz dieser Gefahren dürfen die positiven Potenziale sozialer Medien nicht übersehen werden. Plattformen können Kindern und Jugendlichen neue Räume eröffnen, um sich mitzuteilen, ihre Interessen zu entfalten und mit Gleichaltrigen in Kontakt zu treten. Soziale Medien ermöglichen es jungen Menschen, sich auszudrücken, kreative Inhalte zu gestalten und soziale Bindungen zu stärken (Aktas, 2025). Sie sind heute nicht nur Kommunikationsmittel, sondern auch bedeutende Erfahrungsräume, in denen Selbstinszenierung, Orientierung und Identitätsarbeit stattfinden (Gemkow, 2023).
Die Auseinandersetzung mit Gleichaltrigen – etwa über Likes, Kommentare oder Storys – spielt dabei eine zentrale Rolle: In sozialen Netzwerken erfahren Jugendliche soziale Rückmeldung und positionieren sich im Vergleich mit anderen (Gemkow, 2023). Gerade deshalb ist es entscheidend, Kindern schon früh Medienkompetenz zu vermitteln.
Kinderrechte in der digitalen Welt
Dabei gilt es zu bedenken, dass Kinder laut UN-Kinderrechtskonvention nicht nur ein Recht auf Schutz, sondern auch auf Meinungsäußerung, Beteiligung und Teilhabe haben – auch im digitalen Raum (Deutsches Kinderhilfswerk, o. D.). Das bedeutet: Kindern muss der Zugang zu digitalen Medien offenstehen, gleichzeitig aber altersgerecht, sicher und entwicklungsförderlich gestaltet werden. Die Vermittlung von Medienkompetenz ist dafür unerlässlich – nicht nur technisch, sondern vor allem reflexiv. Kinder müssen lernen, digitale Inhalte zu bewerten, kritisch zu hinterfragen und bewusst mit Medien umzugehen (Gemkow, 2023). Dafür braucht es jedoch mehr als Schulbildung: Auch Eltern, außerschulische Bildungsträger und Plattformanbieter tragen Verantwortung.
Ein Blick nach Australien
Australien hat Ende 2024 ein Social-Media-Verbot für unter 16-Jährige eingeführt. Ziel ist der Schutz der psychischen Gesundheit Jugendlicher und die Eindämmung der Risiken durch exzessive Nutzung von Plattformen wie Instagram oder TikTok.
Mit diesem Gesetz verpflichtet Australien Alterskontrollen über Ausweisdokumente oder KI-Analyse und kontrolliert dies durch eine neue Aufsichtsbehörde. Bei Verstößen sollen die Plattformbetreiber in die Pflicht genommen werden, nicht die Eltern (Aktas 2025).
Die Umsetzung des Gesetzes ist noch im Gange – erste Rückmeldungen deuten auf hohe Zustimmung, aber auch praktische Hürden hin.
Das Verbot ist ein mutiger Schritt mit guter Absicht, aber schwieriger Umsetzung. Zudem belebt es die Debatte um den Umgang mit sozialen Medien und Jugendschutz weltweit neu.
Was denkt Deutschland?
Wäre so ein Social Media Verbot von der Bevölkerung erwünscht?
Eine repräsentative Umfrage der ZEIT ONLINE mit 1.001 Teilnehmer*innen zeigt: 62 % sprechen sich für ein Social-Media-Verbot unter 16 Jahren aus. Besonders auffällig ist die Zustimmung bei den 18- bis 24-Jährigen, dort liegt diese sogar bei 82 % (Agarwala, 2025).
Auch eine eigene Umfrage im Rahmen der Media Night 2025 an der Hochschule der Medien bestätigt die breite Zustimmung unter jungen Erwachsenen: 78 % der Teilnehmer*innen sprachen sich für ein Social-Media-Verbot für unter 16-Jährige aus, 20,5 % waren dagegen, 1,5 % zeigten sich unentschlossen. Insgesamt nahmen 260 Personen an der Befragung teil.
Diese Ergebnisse deuten auf ein wachsendes gesellschaftliches Bedürfnis nach klaren Regeln und Schutzmechanismen im digitalen Raum hin. Auffällig dabei: Gerade junge Erwachsene – also jene, die mit sozialen Medien aufgewachsen sind – sprechen sich besonders deutlich für Veränderungen aus. Ihre hohe Zustimmung signalisiert, dass der aktuelle Stand von sozialen Medien Plattformen für junge Nutzer*innen unzureichend geregelt ist und dringend überarbeitet werden muss.
Doch so eindeutig die Zustimmung scheint – unklar bleibt, was genau die Menschen unter einem „Verbot“ verstehen. Geht es um einen vollständigen Ausschluss von Kindern und Jugendlichen aus sozialen Netzwerken? Oder vielmehr um einen Raum mit klaren Altersgrenzen, in dem Inhalte gezielt gefiltert und der Zugang sinnvoll reguliert wird?Medien das Aufwachsen heute tatsächlich prägen – und welche Risiken damit verbunden sind?
Verbieten oder befähigen?
Denn Schutz muss nicht zwangsläufig Verbot bedeuten. Plattformanbieter könnten stärker in die Pflicht genommen werden, Altersgrenzen technisch umzusetzen und Inhalte gezielt zu filtern. Erste Ansätze dafür gibt es bereits – etwa YouTube Kids oder kindgerechte Einstellungen auf gängigen Plattformen.
Das eigentliche Problem ist nicht die Existenz sozialer Medien an sich, sondern die fehlende altersgerechte Aufbereitung der Inhalte. Kinder bewegen sich auf Plattformen, die nicht für ihre Entwicklungsstufe gemacht sind, in denen sie auf Inhalte stoßen, die sie überfordern oder gefährden können.
Eine mögliche Lösung: Kinder dürfen soziale Medien grundsätzlich nutzen, aber mit klaren Altersabschnitten und stufenweisen Inhaltsfreigaben. So könnten Kompetenzen im Umgang mit digitalen Inhalten frühzeitig aufgebaut werden – statt Jugendlichen mit 16 den völlig unregulierten Zugang zu überlassen, ohne dass sie je gelernt haben, zwischen glaubwürdigen und schädlichen Inhalten zu unterscheiden.
Fazit
Die aktuelle Faktenlage ist eindeutig: Kinder nutzen soziale Medien trotz Altersbeschränkung – oft ohne ausreichenden Schutz. Wissenschaftliche Studien belegen reale Risiken, und internationale Beispiele wie Australien machen deutlich: Ein gesetzlicher Rahmen ist denkbar – aber schwer umzusetzen.
Ich befürworte eine grundlegende Veränderung der aktuellen Social-Media-Plattformen für Kinder und Jugendliche. Aus meiner Sicht sollten sie nicht grundsätzlich ausgeschlossen, sondern durch altersdifferenzierte Zugänge geschützt werden. So könnten Kinder weiterhin an der digitalen Welt teilhaben – jedoch in einem Umfeld, das altersgerecht gestaltet ist und sie nicht mit Inhalten überfordert, die emotional oder sozial noch nicht verarbeitet werden können.
Ein gesetzliches Verbot bestimmter Plattformen oder Funktionen kann dabei eine sinnvolle Maßnahme sein – vor allem als Orientierung und Unterstützung für Eltern. Klare gesetzliche Regelungen schaffen Verbindlichkeit und entlasten Familien, die nicht länger allein in der Verantwortung stehen, individuelle Entscheidungen durchzusetzen.
Gleichzeitig reichen Verbote oder Einschränkungen allein nicht aus. Was es dringend braucht, ist eine frühe und systematische Förderung von Medienkompetenz. Kinder und Jugendliche müssen verstehen lernen, wie soziale Medien funktionieren – welche Rolle Algorithmen, Likes, psychologische Mechanismen und gezielte Aufmerksamkeitslenkung spielen. Nur mit diesem Wissen können sie Inhalte kritisch hinterfragen und sich langfristig selbstbestimmt im digitalen Raum bewegen.
Auch die Plattformbetreiber müssen stärker in die Pflicht genommen werden. Der Schutz junger Nutzer*innen darf nicht länger ausschließlich bei Eltern oder Schulen liegen. Verantwortung muss dort beginnen, wo Inhalte erstellt, ausgewählt und verbreitet werden – und wo wirtschaftlicher Profit aus der Nutzung gezogen wird.
Ob ein deutsches Social-Media-Verbot kommt, bleibt offen. Doch eines ist klar: Die Zeit, das Thema auf die lange Bank zu schieben, ist vorbei.
Quellen und weiterführende Informationen
Agarwala, A. (2025, 15. Mai). Verbot von sozialen Medien: Sollte man soziale Medien für Jugendliche verbieten? ZEIT ONLINE. https://www.zeit.de/2025/20/verbot-soziale-medien-jugendliche-u-16-jaehrige-internet
Aktas, A. (2025, 9. Januar). #Kurz gefasst, klar gedacht: Australien verbietet Social Media für unter 16-Jährige – ein Paradigmenwechsel im Jugendschutz. IfaK – Institut für angewandte Kindermedienforschung. https://ifak-kindermedien.de/trendforschung/kurz-gefasst-klar-gedacht-australien-verbietet-social-media-fuer-unter-16-jaehrige-ein-paradigmenwechsel-im-jugendschutz/
Azem, L., Alwani, R. A., Lucas, A., Alsaadi, B., Njihia, G., Bibi, B., Alzubaidi, M. & Househ, M. (2023). Social Media Use and Depression in Adolescents: A Scoping Review. Behavioral Sciences, 13(6), 475. https://doi.org/10.3390/bs13060475
DAK-Studie 2025 zu Mediensucht: Millionen Kinder weisen riskante Nutzung auf – SCHAU HIN! (o. D.). Abgerufen am 4. Juni 2025, von https://www.schau-hin.info/studien/dak-studie-2025-zu-mediensucht-millionen-kinder-weisen-riskante-nutzung-auf
Deutsches Kinderhilfswerk (Hrsg.). (o. D.). Kinderrechtlicher Hintergrund: Kinderrechte und Aufwachsen im digitalen Raum. Dossier Kinderrechte. Abgerufen am 15. Juni 2025, von https://dossier.kinderrechte.de/hintergrundinformationen
Gemkow, J. (2023, 27. Juli). Jugend und soziale Medien. bpb.de. Abgerufen am 15.06.2025, von https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/izpb/medienkompetenz-355/523579/jugend-und-soziale-medien/
Junges schwarzes Mädchen, das eine digitale Tablette verwendet | Kostenlose Foto. (2021, 22. März). Freepik. Abgerufen am 16. Juni 2025, von https://de.freepik.com/fotos-kostenlos/junges-schwarzes-maedchen-das-eine-digitale-tablette-verwendet_13301051.htm#fromView=search&page=1&position=2&uuid=9b0a1c78-5a8f-4ba6-956c-6d572b14eaa5&query=gesch%C3%BCtzer+raum+online+kinder
Kerr, B., Garimella, A., Pillarisetti, L., Charlly, N., Sullivan, K. & Moreno, M. A. (2024). Associations Between Social Media Use and Anxiety Among Adolescents: A Systematic Review Study. Journal Of Adolescent Health. https://doi.org/10.1016/j.jadohealth.2024.09.003KIM-Studie 2024 – mpfs. (2025, 1. Juni). Mpfs. Abgerufen am 4. Juni 2025, von https://mpfs.de/studie/kim-studie-2024/