Schneewittchen, Aschenputtel und Co. – Warum Kinder Märchen brauchen
„Es war einmal…” – So fangen viele Märchen an, denen Kinder seit vielen Jahrhunderten lauschen und die auch Erwachsene noch begeistern können. In allen Kulturen finden sich märchenhafte Geschichten und obwohl sich die Welt stetig ändert, bleiben einige Probleme wie Familie, Liebe oder Ängste doch die gleichen. Warum Kinder Märchen immer noch brauchen, stellt der folgende Beitrag vor.
Sprache kennenlernen
Märchen sind kurze Erzählungen, in denen es um den Kampf zwischen Gut und Böse geht. Übernatürliche Kräfte greifen um sich, sprechende Tiere und Pflanzen oder in Tiere verwandelte Menschen verleihen den Geschichten ihren phantastischen Charakter. Und natürlich gibt es oft ein glückliches Ende für die Guten – das bekannte Happy End.
Dank dieser „magischen” Eigenschaften sind Märchen bei Kindern sehr beliebt. In ihren Köpfen entstehen Bilder von sprechenden Fröschen und Meerjungfrauen, die sich in Menschen verwandeln. Märchen sind demnach dem Denken der Kinder angepasst, welche sich ihre Welt noch mit magischen Vorstellungen erklären. Dadurch wird ein Zugang zu den Kindern geschaffen, der wiederum hilft, sie für Sprache zu begeistern. Die eindrucksvollen Bilder und die Magie, kombiniert mit den positiven Gefühlen, die unter anderem durch das Happy End entstehen, wirken sich positiv auf das Lernen aus.
Durch die einfache inhaltliche Strukturierung des Textes fällt es Kindern leicht, der Geschichte zu folgen. Es gibt oft das gleiche Handlungsschema (z. B. dass viele Handlungen immer dreimal geschehen) und sprachliche Wiederholungen (z. B. am Anfang „Es war einmal” und am Ende „Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.”).
Besonders die Grimm’schen Märchen gelten als stilbildende Sprachvorbilder und sind somit perfekt geeignet, um Kinder an die Sprache heranzuführen. Das Buch Kinder- und Hausmärchen der Gebrüder Grimm gehört zu den bekanntesten und meist übersetzten Büchern deutscher Sprache. Die teils antiquierten Wörter bieten zusätzlich eine Möglichkeit, den Wortschatz der Kinder zu erweitern.
Märchen bieten sich allerdings nicht nur an, um die eigene Sprache zu erlernen, sie erleichtern es ebenfalls, sich eine Fremdsprache anzueignen. Hier spielen wieder die positiven Botschaften eine Rolle, denn wenn man als Jugendliche*r oder Erwachsene*r eine Fremdsprache über Märchen lernt, wird dies oft mit Erinnerungen aus der eigenen Kindheit verknüpft. Ein Gefühl der Geborgenheit setzt ein und das Gelernte bleibt besser im Gedächtnis als durch stures Auswendiglernen von Vokabeln.
Bindungen aufbauen, Vertrauen schöpfen
Wer Kindern positive Erfahrungen mittels Märchen geben möchte, muss selbst dabei sein. Märchen können trösten, Geborgenheit vermitteln und Mut machen, aber nur, wenn das Kind dabei jemanden neben sich hat. Abspielgeräte haben nicht den gleichen Effekt.
Unter einer warmen Decke an die Eltern gekuschelt wird das Urvertrauen gestärkt – diese Erfahrung bleibt oft ein Leben lang in Erinnerung. In dieser Situation wird dem Kind Zuversicht und Vertrauen in die eigene Stärke vermittelt. Die Bindung, die entsteht, wenn einem Kind vorgelesen wird, ist wichtig für das seelische und körperliche Wohlbefinden. Die Nähe zu einer Person kann nicht durch einen CD-Rekorder oder Ähnliches ersetzt werden. Märchen sind dementsprechend ein Instrument, das die Beziehungsfähigkeit der Kinder beeinflussen kann.
Ebenso wichtig ist, dass sich der*die Erzähler*in für die Geschichten begeistert und emotionsgeladen vorliest. Das Kind wird von den Emotionen des*der Erzählers*in angesteckt und kann sich in die Geschichte vertiefen. Es spürt die Betroffenheit und Begeisterung. Wenn das Kind zudem immer wieder angeschaut wird, können die Emotionen besser übermittelt werden.
Lösungen finden, Ängste überwinden
Märchen können vor allem dann zur Entwicklung beitragen, wenn sie die aktuellen Themen der Kinder aufgreifen. Hat ein Kind beispielsweise Angst vor Geistern, kann ein Märchen ausgesucht werden, in dem ein Geist vorkommt. Durch das positive Ende kann das Kind eine Lösung finden und seine Angst überwinden. Die Aussage des Märchens ist hierbei, dass trotz aller Grausamkeiten und Schrecken ein guter Ausgang möglich ist. Das Kind findet Trost und Zuversicht, denn wenn von Anfang an alles aussichtslos wirkt, würde es sich nicht trauen, ins Leben aufzubrechen. Der Aufbruch ist jedoch ein wichtiger Schritt aus der lähmenden Angst. Damit eignen sich Märchen vor allem in Zeiten der Orientierungslosigkeit, da sie einen Leitfaden anbieten. Um die Angst loszuwerden, ist es von Bedeutung, dass das Märchen nicht geteilt gelesen wird, z. B. an zwei Abenden, sondern am Stück. So kann das Kind die Angst verlieren und wird nicht über Nacht damit allein gelassen. Zudem hilft es, wenn das Märchen mehrfach vorgelesen wird.
Viel diskutiert werden bei Märchen die Gewaltdarstellungen, die möglicherweise Ängste in den Kindern auslösen könnten. Doch meistens besitzen Kinder bereits gewisse Ängste, die sie in Märchen wiederfinden. Durch die Märchen können die Kinder lernen, mit ihren Ängsten umzugehen und nach und nach ihren Weg in die Selbständigkeit finden. Sie werden mit den moralischen Vorstellungen von Gut und Böse konfrontiert und lernen, das eine vom anderen zu unterscheiden. Auf kindgerechte Art und Weise können sie sich hier mit ihren Problemen auseinandersetzen. Dabei bietet das Märchen genügend Abstand, um mit dem Unheimlichen umgehen zu können, das sich in Form von heimtückischen Hexen oder gefräßigen Wölfen zeigt. Durch den märchenhaften Sieg über das Böse werden auch die Ängste des Kindes am Ende besiegt.
Fazit
Märchen helfen Kindern auf vielseitige Weise. Es werden sprachliche Kenntnisse gelehrt und ein erster Einstieg ins Lesen und die Welt der Geschichten ermöglicht. Indem Kindern von Bindungspersonen vorgelesen wird, verstärkt sich ihr Urvertrauen und sie begegnen ihrem Leben mit Zuversicht. Durch die Probleme, die den Märchenfiguren mitgegeben werden, können Kinder lernen, mit ihren eigenen Problemen und Ängsten umzugehen.
Quellen und weiterführende Informationen
Bauer, A. (2015): Heilende Märchen: Geschichten, die Kinder stark machen. München: Südwest Verlag.
Bausinger, H. (1989): Zu Sinn und Bedeutung der Märchen. In: H. B. Harder; D. Hennig (Hrsg.): Jacob und Wilhelm Grimm zu Ehren. Marburg: Hitzeroth, 13-33.
Familie.de. (2018): Warum Kinder Märchen brauchen. https://www.familie.de/kleinkind/warum-kinder-maerchen-brauchen/. (29.04.2023)
Geister, O. (2021): Märchenpädagogik und Sprachlernen. https://www.goethe.de/ins/pl/de/spr/mag/22914609.html. (30.04.2023)
Hüther, G. (2012): Warum Kinder Märchen brauchen. https://www.erziehungskunst.de/artikel/fruehe-kindheit/warum-kinder-maerchen-brauchen/. (29.04.2023)
Kemmer, A.; Jarde, M. (2022): Kindern vorlesen: Sind Märchen noch pädagogisch wertvoll?. https://www.br.de/nachrichten/deutschland-welt/kindern-vorlesen-sind-maerchen-noch-paedagogisch-wertvoll,TKmqfwL. (29.04.2023)Wissen.de. (o. D.): Märchen. https://www.wissen.de/lexikon/maerchen. (30.04.2023)