Förderung der emotionalen Kompetenz durch Kinderbücher

Emotionen spielen eine zentrale Rolle in der Entwicklung von Kindern. Besonders in den ersten Lebensjahren lernen Kinder durch Beobachten, Erleben und Nachahmen von Gefühlen, wie sie ihre eigenen Emotionen erkennen, benennen und regulieren können. Kinderbücher sind ein wertvolles Werkzeug, um diesen Lernprozess zu unterstützen. Sie erzählen nicht nur spannende Geschichten, sondern bieten auch zahlreiche Gelegenheiten, um emotionale Kompetenzen zu entwickeln. In diesem Artikel betrachten wir, wie Kinderbücher Emotionen thematisieren und die emotionale Entwicklung von Kindern fördern können.
Entwicklung der emotionalen Fähigkeiten
Emotionen sind komplexe Reaktionen, die aus einem Gefühl, einem Auslöser, einer Bewertung, einer körperlichen Reaktion und einem Emotionsausdruck bestehen. Sie beeinflussen unser Verhalten, steuern Interaktionen und wirken sich auf unser Denken aus.
Das emotionale Lernen beginnt bereits vor der Geburt und entwickelt sich während der gesamten Kindheit weiter. Die größten Fortschritte macht das Kind jedoch in den ersten sechs Lebensjahren, in denen es wichtige emotionale Fähigkeiten wie den Ausdruck, das Verständnis und die Regulation von Gefühlen erlernt.
Im ersten Jahr entwickelt das Kind erste Emotionen wie Freude, Angst und Ärger. Es lernt, diese durch Mimik und Lautäußerungen auszudrücken und zeigt erste Empathie, indem es auf die Emotionen anderer reagiert. Es zeigt erste Ansätze zur Selbstberuhigung, benötigt jedoch Unterstützung von vertrauten Bezugspersonen.
Im zweiten Lebensjahr wird der Emotionsausdruck mit der Entwicklung der Sprache facettenreicher. Das Kind verwendet erste Worte für Emotionen und versteht zunehmend, dass Gefühle von inneren Wünschen und Zielen abhängen. Es entwickelt erste Selbstberuhigungsstrategien und zeigt erste egozentrische Empathie.
Kinder im dritten Lebensjahr lernen, zwischen dem inneren Erleben von Gefühlen und ihrem sichtbaren Ausdruck zu unterscheiden. Sie erkennen zunehmend, dass Mimik nicht immer das wahre Empfinden zeigt. Sie lernen, Emotionen als subjektive Erfahrungen zu verstehen und beginnen, erste Perspektivenwechsel vorzunehmen.
Im Kindergartenalter erweitern Kinder ihr Emotionsvokabular und entwickeln ein besseres Verständnis für die Emotionen anderer. Sie lernen, soziale Regeln für den Emotionsausdruck zu befolgen und entwickeln zunehmend die Fähigkeit zur Empathie, indem sie zwischen den Gefühlen anderer und ihren eigenen differenzieren.
Vorschulkinder haben ein vielseitiges Verständnis für Emotionen und beginnen, ihren Emotionsausdruck bewusst zu kontrollieren. Sie können Emotionen strategisch vortäuschen oder verbergen, um unerwünschte Reaktionen bei anderen zu vermeiden. Ihre Empathiefähigkeit vertieft sich weiter, indem sie die Emotionen anderer besser in Kontext setzen können.
In jedem dieser Jahre macht das Kind wichtige Fortschritte in seiner emotionalen Entwicklung – eine wichtige Grundlage für den späteren Umgang mit sich selbst und anderen.
Wie Kinderbücher Emotionen vermitteln
Kinderbücher bieten eine breite Palette an Emotionen, von Freude, Traurigkeit und Angst bis hin zu Wut, Scham und Stolz. Sie stellen Situationen dar, in denen Charaktere mit verschiedenen Emotionen konfrontiert sind, und zeigen, wie sie mit diesen Gefühlen und den damit verbundenen Herausforderungen umgehen. Geschichten, in denen Charaktere diese Emotionen erleben, vermitteln den Leser*innen, dass all diese Gefühle normal und Teil des menschlichen Lebens sind. Besonders hilfreich sind Bücher, die den Übergang zwischen verschiedenen Gefühlszuständen verdeutlichen. Zum Beispiel kann ein Kind lernen, dass Traurigkeit oft in Glück umschlagen kann, wenn es eine Lösung für ein Problem findet oder eine positive Veränderung erlebt.
Bücher, die gut entwickelte Charaktere zeigen, die mit eigenen Ängsten oder Sorgen kämpfen, können Kindern helfen, Empathie zu entwickeln. Wenn ein Kind die inneren Konflikte einer Figur nachvollzieht, erweitert sich sein eigenes Verständnis für die Gefühle anderer. Dadurch wird das Kind in seiner Fähigkeit unterstützt, sich in andere hineinzuversetzen, und lernt, die Emotionen von Gleichaltrigen besser zu erkennen und darauf einfühlsam zu reagieren.
Die Rolle von Illustrationen
In vielen Kinderbüchern spielen nicht nur die Worte, sondern auch die Illustrationen eine wichtige Rolle, wenn es darum geht, Emotionen zu vermitteln. Bilder können die intensiven Gefühle von Figuren verstärken und oft noch deutlicher ausdrücken als Worte. Ein trauriger Gesichtsausdruck, die Körperhaltung eines Charakters oder die Verwendung bestimmter Farben (wie Blau für Traurigkeit oder Rot für Wut) helfen Kindern, Emotionen visuell zu erkennen und zu verstehen.
Bücher für unterschiedliche Altersgruppen
Je nach Alter und Entwicklungsstand unterscheiden sich die Bedürfnisse der Kinder im Hinblick auf die Vermittlung von Emotionen. Bei jüngeren Kindern können Bilderbuchgeschichten, die einfache Emotionen wie Freude, Trauer und Wut thematisieren, hilfreich sein. Diese Bilderbücher konzentrieren sich oft auf konkrete Situationen, in denen sich Kinder selbst wiedererkennen können.
Im Vorschulalter sind Bücher, die soziale Interaktionen und Konflikte zwischen Kindern darstellen, besonders wertvoll. Sie bieten nicht nur Einsicht in die Gefühlswelt der Kinder, sondern auch in die Art und Weise, wie Gefühle in zwischenmenschlichen Beziehungen Ausdruck finden.
Im Grundschulalter können komplexere Geschichten mit tiefergehenden emotionalen Themen und verschiedenen Perspektiven dabei helfen, die Empathiefähigkeit und das Verständnis für differenzierte Gefühle weiter zu entwickeln.
Kinderliteratur zur Förderung der emotionalen Kompetenz?
Ein Forschungsteam an der Freien Universität Berlin entwickelte 2008 ein literaturbasiertes Interventionsprogramm zur Förderung emotionaler Kompetenz für Kinder der zweiten und dritten Klasse. Grundlage des Programms war das Kinderbuch “Ein Schaf fürs Leben”, das gezielt eingesetzt wurde, um das Emotionsvokabular, das Emotionswissen sowie die Fähigkeit zu stärken, gemischte und maskierte Gefühle zu erkennen. Nach 10 Wochen zeigte sich, dass die Kinder der Interventionsgruppe signifikant höhere Werte in diesen Bereichen erzielten, insbesondere bei der Wahrnehmung von verdeckten Gefühlen. Die Ergebnisse belegen: Kinderliteratur kann die emotionale Kompetenz von Kindern wirksam fördern, indem sie das Verständnis für Gefühle erweitert und differenziert.
Einsatz von Kinderbüchern zur Bewältigung von Trauer
Kinder haben oft Schwierigkeiten, ihre Gefühle auszudrücken – besonders in traurigen oder belastenden Situationen wie dem Verlust eines Haustiers oder einer nahestehenden Person. In solchen Momenten erreichen die Worte von Erwachsenen sie oft nicht, oder die Kinder fühlen sich nicht verstanden, was es noch schwieriger macht, mit der Trauer oder Verwirrung umzugehen.Kinderbücher können daher in Zeiten der Trauer eine Unterstützung sein. Sie bieten einen geschützten Rahmen, in dem Kinder sich mit ihren eigenen Gefühlen auseinandersetzen können. Gleichzeitig helfen die Geschichten dabei, die oft überwältigenden Emotionen besser zu verstehen. Durch Geschichten, die kindgerecht auf Trauer, Abschied und den Umgang mit Verlust eingehen, können Kinder lernen, dass ihre Gefühle normal und okay sind. Bilder und Erzählungen bieten Kindern somit die Möglichkeit, ihre Ängste, Fragen oder Unsicherheiten auszudrücken, ohne dass sie sich überfordert fühlen.
Buchtipp: Das Buch „Weil du mir so fehlst“ von Ayse Bosse und Andreas Klammt ist besonders geeignet, weil es aufgrund seiner Vielseitigkeit in den unterschiedlichsten Trauersituationen eingesetzt werden kann. Es lässt offen, wer verstorben ist, und ist somit nicht an einen bestimmten Verlust gebunden, was es für eine breite Zielgruppe zugänglich macht. Es vermittelt auf altersgerechte Weise, dass es kein „richtiges“ oder „falsches“ Trauern gibt und spricht dabei auch wichtige Themen wie Schuldgefühle und Ängste an. Mit Poesie und einem Hauch Humor hilft das Buch, die oft verwirrenden Gefühle der Trauer zu benennen und aufzulockern. Es bietet zudem kreative Rituale und Vorschläge, die Trost spenden können. Das Buch eignet sich nicht nur für Kinder, sondern auch für Erwachsene, um die Trauer von Kindern besser zu verstehen. Es ist ein Buch für alle, die sich mit Verlust und Abschied befassen müssen.
Fazit
Kinderbücher sind tolle Hilfsmittel zur Förderung der emotionalen Entwicklung von Kindern. Durch Geschichten können Kinder verschiedene Emotionen kennenlernen, verstehen und einen gesunden Umgang mit ihnen erlernen. Darüber hinaus fördern Kinderbücher die Empathiefähigkeit, indem sie Kindern die Möglichkeit bieten, sich in andere hineinzuversetzen und deren Perspektiven einzunehmen. So tragen Kinderbücher nicht nur dazu bei, das Emotionsverständnis zu erweitern, sondern fördern auch das Ausdrucksvermögen und die Fähigkeit, sich selbst und andere besser zu verstehen.
Quellen und weiterführende Informationen
Dorsch, W. (2021): Kinderbücher als Trauerbegleiter. Pädiatrie 33(5), 75.
Frech, V. (2021): „Erkennen, fühlen, benennen…“ Grundlagen der emotionalen Entwicklung im frühen Kindesalter. https://www.kindergartenpaedagogik.de/fachartikel/psychologie/erkennen-fuehlen-benennen-grundlagen-der-emotionalen-entwicklung-im-fruehen-kindesalter/. (24.01.2025)
Rosa, I., & Cluster, E. (2012): Kann Kinderliteratur emotionale Kompetenzen fördern?
https://www.logopaedieschweiz.ch/fileadmin/media/bulletin_archiv/146_Kann%20Kinderliteratur%20emotionale%20Kompetenzen%20f%C3%B6rdern.pdf. (24.01.2025)
Widler, M., & Abbruzzese, R. (2019): Fortbildung: „Weil du mir so fehlst“ – Das Kinderbuch in der Trauerarbeit. Kinderärzte Schweiz, (2), 40.